Tarifautonomie wiegt schwerer als der Gleichbehandlungsgrundsatz – Ein Urteil mit (vermutlich) weitreichenden Folgen
Worum ging es in dem Rechtsstreit?
Der Rechtsstreit betraf die Frage, ob die unterschiedliche Höhe tarifvertraglich geregelter Zuschläge für Nachtarbeit (50 %) und Nachtschichtarbeit (25 %) gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG verstößt.
Unterschied zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit
- Nachtarbeit ist unregelmäßige Arbeit in der Nachtzeit (z. B. spontan oder vereinzelt geleistete Arbeit zwischen 22:00 und 6:00 Uhr).
- Nachtschichtarbeit ist regelmäßige Schichtarbeit, die in die Nachtzeit fällt und durch einen Schichtplan geregelt ist.
Diese Differenzierung war in den zugrunde liegenden Manteltarifverträgen klar definiert.
Geklagt hatten Beschäftigte, die regelmäßig in Nachtschichten arbeiteten und dieselbe Zuschlagshöhe forderten wie Beschäftigte, die unregelmäßig nachts arbeiten.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte in zwei Urteilen die Tarifregelungen für Nachtschichtzuschläge für verfassungswidrig erklärt, da sie eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung darstellten. Es ordnete eine sogenannte „Anpassung nach oben“ an – Nachtschichtarbeit sollte rückwirkend wie Nachtarbeit vergütet werden. Die Arbeitgeberinnen, die zur Zahlung dieser höheren Zuschläge verurteilt worden waren, legten Verfassungsbeschwerde ein.
Das Bundesverfassungsgericht hob die Entscheidung des BAGs auf. Wen das bestand hat, dann dürfte das massive Auswirkungen auf Entscheidungen ungleicher Vergütung bei identischer Arbeit zugunsten der Arbeitnehmer, insbesondere bei Überstundenzuschlägen und Erschwerniszulagen, haben. Auch das erst kürzlich ergangene Urteile zur Teilzeitdiskriminierung könnte „wackeln“. Diese Entscheidung haben wir im Februar in unserem Newsletter besprochen ().
Zur besseren Übersicht haben wir Euch mal die Positionen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gegenübergestellt.
Position des Bundesarbeitsgerichts (BAG)
- Das BAG nahm eine mittelbare Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien an.
- Die Tarifautonomie finde ihre Grenze dort, wo tarifliche Regelungen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen.
- Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit seien vergleichbare Tatbestände, da beide zur selben Zeit geleistet würden (zwischen 22:00 und 6:00 Uhr).
- Die unterschiedliche Zuschlagshöhe sei nicht sachlich gerechtfertigt, da gesundheitliche Belastung und soziale Einschränkungen vergleichbar seien.
- Eine „Anpassung nach oben“ sei geboten, um Gleichbehandlung herzustellen.
Position des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)
- Das BVerfG hob die Urteile des BAG auf.
- Es sah in der Entscheidung des BAG einen Eingriff in die Tarifautonomie gemäß Art. 9 Abs. 3 GG.
- Tarifverträge seien Ausdruck kollektiv ausgeübter Privatautonomie und unterlägen daher nur einer eingeschränkten richterlichen Kontrolle, insbesondere bei Regelungen im Kernbereich von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen.
- Die Kontrolle von Tarifnormen am Maßstab des Gleichheitssatzes sei nur dann zulässig, wenn sie offenkundig willkürlich seien oder systematisch benachteiligende Gruppenregelungen enthielten.
- Die Tarifvertragsparteien hätten einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum. Gerichte dürften diesen Spielraum nicht durch eigene Wertungen ersetzen.
- Rechtsfolgen gleichheitswidriger Normen dürften nicht ohne Rückgriff auf die Tarifvertragsparteien geregelt werden; eine „Anpassung nach oben“ sei ein Eingriff in deren Gestaltungsfreiheit.
Fazit
Der Streit drehte sich um das Spannungsverhältnis zwischen Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) und dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Während das BAG zugunsten der Gleichbehandlung von Nachtarbeit leistenden Arbeitnehmern entschied, stellte das BVerfG klar, dass tarifpolitische Kompromisse nicht leichtfertig durch Gerichte aufgehoben werden dürfen. Eine gerichtliche „Anpassung nach oben“ ohne Beteiligung der Tarifparteien überschreite die Kompetenzen der Judikative und verletze die Koalitionsfreiheit.
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